Worum es hier gehtSeit Jahren wird diskutiert, was wohl "Internet-Literatur" ist, und die Frage ist genauso schwer beantwortbar wie die, was "Literatur" ist. Sicher ist eines: ein Gedicht, das ins Internet gestellt wird, ist deshalb alleine noch kein "Internet-Gedicht". Oder anders gefasst: es ist genauso sehr ein Internet-Gedicht, wie ein mit Kugelschreiber geschriebenes Gedicht ein Kuli-Gedicht ist oder ein vorgetragenes Gedicht ein "Vortrags-Gedicht". Es gibt Gedichte - und Bücher -, die für den Vortrag denkbar schlecht geeignet sind. Sie sind daher mehr für die Augen als für die Ohren produziert, sei es, weil formale Dinge eine Rolle spielen (z.B. Fotos, die Wörter ersetzen, oder Morgensterns "Trichter-Gedicht", das seinen Witz aus der Anordnung der Wörter bezieht). Andere Gedichte funktionieren nur im Vortrag, weil sie Doppelsinn enthalten, der vom gleichen Klang verschiedener Begriffe entsteht, aber aufgeschrieben eben verloren ginge. Sprechen und Schreiben haben eben nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede. Ähnlich mag es auch Gedichte geben, die ausschließlich im Internet "funktionieren", etwa durch Einbindung von Elementen aus verschiedenen Webseiten. Ein solches Gedicht ließe sich nicht ausdrucken. Auch Interaktivität kann bei online-Gedichten eine Rolle spielen, doch ist die Frage, ob das nicht den Rahmen sprengt: denn ein Baukasten mit Wort-Würfeln kann sorgfältig (und poetisch) gemacht sein, letztendlich entsteht das Gedicht nur durch den Benutzer. "Interaktive" Literatur ist drum mehr oder weniger - je nach dem Grad der Interaktivität - ein System zur Gedichterzeugung, aber selber kein Gedicht. Ähnlich wie eine Kiste voller Legosteine eben keine Ritterburg ist, aber in den Händen begabter Kinder eine werden kann. Die Frage, was "Internet-Literatur" ist, hat also viel mit Medien und Ausdruck zu tun, und eindeutig zu beantworten ist sie kaum. Am nützlichsten ist vermutlich die Definition, die gern für SLAM-Poetry benutzt wird: Slam-Poetry ist das, was auf Poetry Slams zum Vortrag kommt. "Definiert" kann man so etwas kaum nennen. Aber das galt für Literatur ja schon immer. Trotzdem ist interessant, herauszufinden, ob sich etwas verändert hat, und wenn ja, WAS dieses "Etwas" denn ist. Das Internet verändert auf jeden Fall die Sprache, hat zur Entstehung von Subkulturen wie etwa der Chat-Community mit eigenen Idiolekten geführt und neue Wege der Meinungsäußerung geschaffen. Auch der Gebrauch von Text hat sich verändert - heute benutzt jedes Schulkind ganz selbstverständlich Hypertext, wenn es die Wikipedia verwendet. Nutzung und Abfrage von Datenbanken sind selbstverständlich geworden. Das Englische ist präsenter denn je, und für viele Worte machen wir uns nicht einmal mehr die Mühe, deutsche Entsprechungen zu erfinden - die Worte "Web" oder "online" zum Beispiel. Die meisten Texte, die jetzt verfasst werden, durchwandern Computer - sei es, um ausgedruckt zu werden, sei es, um sie besser aufheben zu können. Ein Gedicht, das einer Vielzahl von Menschen gezeigt werden soll, kann sich der elektronischen Welt damit kaum noch entziehen. Ein Text, der keine Berührung mit Computern hat, ist fast automatisch ein privater Text; ein Liebesgedicht etwa, das nur für einen Menschen verfasst und nur diesem vorgelesen oder zugeschickt wird. Diese - schönste - Art des Gedichts aber ist so privat wie die Liebe, die darin Ausdruck findet. Und, was auch immer das Internet ist - privat ist es nie. Diese Seiten befassen sich darum mit der Frage, was an der Literatur durch ihren Kontakt mit dem Internet verändert wurde, und was electronic publishing mit den Inhalten macht. |
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