Die drei Dimensionen (I)
Woher Dichtung kommt - die erste Dimension
Haben Sie Lust, die "Buddenbrooks" am Bildschirm
zu lesen? - Ich auch nicht, ganz Ihrer Meinung. Und was sich zwanglos
anschließt, ist die Frage, was Literatur und Computer überhaupt
miteinander zu tun haben?! Was hat Dichtung im Informationszeitalter verloren?
Was macht Literatur mit dem Netz, und umgekehrt? Kommen Sie mit, wenn
Schreiben und Internet Sie interessieren. Kommen Sie, wenn Sie auf eine
MiniWeltgeschichte der literarischen Form neugierig sind.
...kommen Sie. Dichtung im Web ist eine junge Sache, wir sind alle noch
am Rumprobieren. Fraglich ist, was es mit dem Neuen auf sich hat und wodurch
es sich vom Alten unterscheidet. Das ist ein historischer Ansatz, und
damit kommt die versprochene:
Kleine Geschichte der literarischen Form
Damit alles schön plastisch wird, teilen wir in
drei Dimensionen literarischer Form ein. Wir fangen mit der ersten an,
und zu den zwei anderen gibt es hier jetzt mal *keinen* Hyperlink, ich
sage unten, weshalb. So, das passt Ihnen nicht? Dann klicken Sie sich
doch weg und lassen sich woanders verblöden, zum Beispiel zu diesem
Nonsens hier.
Eindimensional - linear: Woher Dichtung kommt
Machen wir einen kleinen Hupf durch die Zeit, 7000 Jahre
zurück. Sind Sie noch dabei?
- Wunderbar. Blick auf die Uhr: es ist kurz vor Hochkultur, ca. 5000 v.
Chr. Die menschliche Gesellschaft hat bereits ein Informationsnetz. Es
besteht aus - na? - Aus Schwätzern, ganz recht, lauter Schwätzer.
Schreiben können nämlich nur Priester, Schreiber, und wenn´s
hoch kommt, ein paar ehrgeizige Kaufleute. Öffentliche Information
gibt es durch Stelen und Denkmäler. Das Gesprochene ist beherrschend:
Gerüchte, Märchen, Sagen.
Alles zutiefst subjektiv, flüchtig wie die Erinnerung.
Um die furchtbare Flüchtigkeit zu überwinden, behelfen sich
die Menschen mit Stein, Tontafeln, Pergament, Papier. Herstellung und
Kopie sind zeitaufwendig, und nur für wenige bedeutsam. Schriftstücke
sind etwas Rares, nicht selten Heiliges. Kein Mensch würde in dieser
Zeit darauf kommen, etwas aufzuschreiben, was unnötig ist oder keinen
bleibenden Wert hat. So bleibt es ein paar Jahrtausende lang. Jetzt lassen
wir mal einen hübschen Skandal geschehen. Nehmen wir den Fall Ödipus
vor rund 3000 Jahren: eine Sache, die so grässlich ist, daß
jeder davon hören und drüber reden will: eine Sage entsteht.
Die einzelnen Versionen sind aber unterschiedlich, vor allem, weil kein
Mensch sich diese verwirrenden Familienverhältnisse merken kann.
Man muß daher einen Weg finden, die Nachricht IN EXAKTER FORM VERBREITEN
zu können. Dazu braucht sie eine Gedächtnis-freundliche Form.
Wenn Sie nämlich Homer sind und sie WEITERERZÄHLEN wollen, haben
Sie einen verdammt guten Grund dafür: das Interesse Ihrer Hörer
bedeutet für Sie ein Dach über dem Kopf und ein Abendessen.
Daß Sie mit viel Aufwand an eine geschriebene Fassung kommen könnten,
nützt Ihnen wenig, denn Sie sind Homer, also blind. Trotzdem müssen
Sie flüssig vortragen können. Sie brauchen eine Merkhilfe. Drum
reimen, rhythmisieren und schematisieren Sie. Ihre Mühe hat fünf
Vorteile:
- Sie können sich alles genauer, leichter und schneller merken,
geraten nicht ins Stocken, verlieren den Faden nicht.
- Sie sind jetzt kein einfacher Schwätzer mehr wie all die andern,
sondern Rezitator.
- Ihren Zuhörern gefällt Ihre Rede besser, weil sie weniger
Äh´s enthält und gut klingt.
- Ihre Zuhörer können sich Ausschnitte, die sie besonders
schön finden, mehrmals vortragen lassen und haben sie dann im
Kopf. Wieder ein Sieg über die Flüchtigkeit.
- Wer Ihre Verse stehlen will, läuft Gefahr, daß seine
Hörer ihn auslachen: Mensch, das ist doch von Homer! Sie haben
dem Inhalt Ihren Stempel mitgegeben.
Reim bewirkt, daß Sie sich nur noch 50 % AKTIV
merken müssen - den Rest können Sie sich WÄHREND DES VORTRAGS
passiv erschließen. Diese Mnemotechnik heißt Reduktion. Das
eine wird klanglich mit dem andern verknüpft, und so bildet sich
in unserer Silbenlinie eine Verkettung. Das Versmaß hingegen hat
Kontrollfunktion: Sie merken, wenn ein Wort fehlt - dann "passt"
nämlich der Rhythmus nicht mehr. Zudem ist die Rhythmisierung eine
hervorragende Art, Information zu speichern, jeder Mensch tut dies unbewusst
bei Telefonnummern. Dies nennt man Elaboration, Verknüpfung des Abzurufenden
mit einer Zusatzinformation - in einem hoch komplexen Netzwerk wie unserem
Gehirn Voraussetzung für schnellen Datenzugriff. Der rote Faden der
Geschichte tut ein übriges, und die Zeit, die Sie zum wörtlichen
Auswendiglernen einer Ballade brauchen, ist nur ein Bruchteil dessen,
was Sie in einen gleichlangen strukturlosen Text investieren müssen.
Der Faden läuft jetzt in einem vorhersagbaren Raster und enthält
viele Kreuz- und Querverbindungen. Durch Sachzwang ist ein Netz entstanden,
aber eines, das von A bis Z streng linear durchlaufen werden kann. |