Zweidimensional - flächig
Wie Dichtung war
Ein kleiner Hupf durch die Zeit, und wir landen bei Johannes
Gutenberg, der zusammen mit der Papierindustrie dafür gesorgt hat,
daß das Werkzeug Poetik eigentlich überflüssig ist. Wenn
ich getrost nach Hause tragen kann, was ich schwarz auf weiß besitze,
dann wäre ich ja schlichtweg blöd, alles auswendig zu lernen,
denken Sie sich - und damit haben Sie schon wieder recht. Wenn Papier
reichlich vorhanden ist und Kopieren maschinell geht, findet die exakte
Verbreitung auf einem neuen Medium statt: tragbare Schriftstücke
statt lernbarer Liedstücke. Sie können sie flächig vor
sich ausbreiten. Sie müssen den Text nicht mehr von Anfang bis Ende
in Ihrem Kopf ablaufen lassen, Sie können sprungweise lesen, Vergleiche
verschiedener Passagen anstellen, kurz, blicken auf ein Netzwerk. Auch
das Bücherregal ist eines. Wieso verschwindet die Poetik jetzt nicht?
Das hat mehrere Gründe. Utilitarismus ist gut, aber nicht alles.
Ästhetik ist eben etwas Schönes, und an ausgewogenen Formen,
Symmetrie und Struktur haben wir alle Spaß - und wenn´s nur
der wäre, sie bewusst zu zerbrechen. Noch ein Grund ist, daß
Sie mit Reim und Rhythmus Ihrem Text zusätzliche Informationen über
Klang und Sprechweise mitgeben können. Ganz wichtig ist aber, daß
Sie ja etwas verbreiten wollen - und an der Schnittstelle Ihres schriftlichen
Mediums sitzt ein Leser. Ein von der Natur als Sprech- und Hörmaschine
gebautes Wesen, das sich Ihre Sätze vorzugsweise als Klang merkt,
nicht als Textbild. Wie viele Popsongs gibt es, die auf Rhythmus oder
Reim verzichten? Mir fällt keiner ein und Ihnen auch nicht, und das
wiederum aus dem Grund, daß man den Refrain eben dann leicht nachträllern
kann, wenn er gereimt ist. Gereimter Text ist unschlagbar gedächtnis-freundlich.
Es gibt ein unsichtbares Netzwerk von Literatur in den Köpfen aller
Menschen, die sich je die Mühe gemacht haben, ein Gedicht auswendig
zu lernen; und das bleibt in völliger Unabhängigkeit von irgendwelchen
anderen Medien erhalten und kann genau tradiert werden, selbst wenn im
Atomkrieg die Bibliotheken brennen und der Strom ausfällt. Aus all
diesen nützlichen Gründen bleibt die Poetik trotz der zweidimensionalen
Papiernetzwerke. Die Dichtung macht aber ausgiebigen Gebrauch von dem
neuen Medium, indem sie neue Formen erfindet: Palindrom, Akrostichon,
Kryptogramm, Anagramm. Sie nutzt den Leerraum als optische Pause - eine,
die keine Zeit kostet, nämlich. Alles Dinge, die im Akustischen sinnlos
sind.
Das ist die zweite Dimension der literarischen Form: optische Gestaltung
der Sprache, die gerade davon lebt, daß der Leser den Text als Fläche
vor sich hat, vom Hörer zum Betrachter wurde.
Die Experimentierwut ist für die Dichtung lebensnotwendig, weil sie
ständig auf der Suche nach Verstärkung des Ausdrucks ist, um
den Konsument auf immer neue Weise reizen zu können; alles in der
Hoffnung auf ein Dach über dem Kopf und ein Abendessen.
Was heißt das neue Medium für den Inhalt? Zunächst bietet
er weitere Möglichkeiten, das Inhalts-Netzwerk zu verstärken.
Mehr noch, Stichwort Buddenbrooks: Sie können Ihren Lesern größere
Welten bauen. Sie können komplexer erzählen, umfangreichere
Theorien entwickeln. Der Leser braucht nicht alles auf einmal im Kopf
zu behalten; das Buch ist ein Zwischenspeicher, aus dem Daten zuverlässig
und frei abgerufen werden können. Die Kritik der reinen Vernunft
hätte Kant zu Homers Zeiten kaum weiter vermitteln, vielleicht nicht
einmal entwerfen können. Die neue Form ermöglicht neue Inhalte.
|