Linearität und Meinung
Warum geht´s trotzdem weiter? Weil das Ende der
linearen FORM einiges für den Inhalt heißt. So ist es zum Beispiel
nicht weiter schwierig, Baumstrukturen zu erzeugen, die Geschichten sind.
Die einfachste ist die Verzweigung: ich schreibe eine spannende Geschichte
(hoffentlich) und biete Ihnen kurz vor Schluss eine Auswahl an: Happy
End und Troubled End. Dürrenmatt hat das auch ausprobiert, und zwar
in "Grieche sucht Griechin". Weitere Variationen sind denkbar:
Verzweigungen in mehrere Ebenen, Geschichten, die Sie à la Kreuzworträtsel
selbst zusammenstellen, Semantische Netzwerke. Jede der Varianten durchleben
Sie linear. Der einzige Unterschied ist der, daß der Leser selbst
ein Zufallsgenerator wird. Daß Sie dabei - durch die zeitliche Abfolge
- streng linear bleiben, sehen Sie zum Beispiel daran, daß Sie sich
mit dem "Zurück" und "Vor"-Button Ihres Browsers
ewig in einer Linie bewegen... vorher und nachher... so daß es mit
dem Vernetzten Denken auch nicht weiter her ist, als hätte man Ihnen
all die Varianten eine nach der andern dargeboten.
Kürzer: wo funktioniert´s, wo nicht? Es funktioniert überall
dort, wo die Informationen gleichwertig sind oder eine relative Bedeutung
haben: in Wissensgebieten. Hier ist Hypertext ein reiner Vorteil und hat
keinerlei inhaltliche Rückwirkungen. Der Weg durch Baum oder Netz
hängt vom Rezipienten ab und ist egal. Vor allem deshalb, weil keine
Meinung ausgedrückt, sondern ein Zustand beschrieben werden soll:
zu diesem Thema gibt es a), b) und c), und welche der sechs möglichen
Reiserouten durch die drei Punkte Sie antreten, hat keine Auswirkung.
Außer für Ihren Lernfortschritt.
Für eine Meinung ist das nicht mehr egal. Denn die Bedeutung lebt
vom Kontext, und der lebt auch davon, was vorher und was nachher steht.
Nehmen Sie als Beispiel diesen Aufsatz. Die Form folgt der Argumentationskette,
und die ist nicht austauschbar. Form ist nur da frei, wo der Inhalt es
ist; wo die Auswahl des Zufallsgenerators Leserin-oder-Leser nicht schaden
kann.
Belletristisch gesehen bedeutet das für Autorin oder Autor, daß
Links nur dort möglich sind, wo Aussage a) und Aussage b) gleichermaßen
die eigene Meinung wiedergeben; wo Varianten aufgezeigt werden sollen,
die voneinander unabhängig dastehen; und wo das, was man jeweils
mit Leserin oder Leser machen will, für einen selbst gleichwertig
ist. Im Endeffekt ist es dasselbe, als hätte man mehrere Variationen
einer Geschichte herausgegeben, so wie Picasso mehrere Radierungen zum
Thema Stier. Erzeugt man eine fiktive Welt, kann die Wirkung erstaunlich
sein und ist es schon in zahllosen Computerspielen. Leserin oder Leser
können teilnehmen und Entscheidungen treffen. Sie dürfen aber
nie so frei sein wie in einem reinen Wissens- oder Informationsnetz. Denn
Meinung ist Bedeutung auf einem anderen Level als Information. Meinung
heißt nicht: So isses. Sondern: so sehe ich es. Zerstöre ich
daher die Linearität vollständig, so zerstöre ich einen
Teil der Bedeutung. Stellen Sie sich mal vor, ich ginge her und würde
aus der "Kritik der reinen Vernunft" ein voll interaktives Netz
machen. Natürlich, beim Lesen und Klicken hätten Sie etwas davon:
und zwar ein neues, ein anderes Buch.
Aber muß denn immer und unbedingt eine Meinung ausgedrückt
werden? Beispiel: ein Text, der völlig frei interaktiv ist. Leserin
oder Leser wählen Wortfolgen (linear, oder kennen Sie ein nichtlineares
Wort?) aus. Ist das ein Gedicht? Ja sicher, ohne Zweifel; aber Sie, als
Urheber/in, können nur noch durch Auswahl der zur Verfügung
gestellten Wörter mitreden. Bedeutung kommt zustande, aber ist es
die, die Sie wollten? Vielleicht wollten Sie gar keine spezielle Bedeutung,
sondern ein vom Rezipienten abhängiges Kunst-Erlebnis. Die Kunst
spricht nicht mehr für sich, sondern kommt zustande aus Betrachter
und Betrachtetem. In der bildenden Kunst hat Beuys das vorgemacht, der
aus meiner Sicht ein großartiger Künstler war. Wir Schreiberinnen
und Schreiber haben diese Dimension der Be-deutung mit dem Räumlichen
hinzugewonnen: wir können nun Erlebnisse schaffen, deren FORM der
Betrachter be-deutet. Das war vorher nur bei denen möglich, die uns
total missverstanden. In Sachen Geschichten werden wir damit letztlich
zu Programmierern von Computerspielen. Nichts Schlechtes dabei, der Markt
dafür ist groß. Und in Sachen Gedichte?
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