Internet Literatur

Ein Essay und
eine kleine Geschichte der literarischen Form

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Seekultur

 

Dreidimensional - räumlich
Wie Dichtung wird

Jetzt machen wir einen weiteren Hupf und befinden uns im Heute. Die buchstäbliche Komponente der Kultur hat sich ständig vergrößert, aber immer noch sind Parlament, Theater, Hörsaal ausgesprochen akustisch orientiert. Wir haben sogar noch Fernseh-Ansagen. Aber im Internet? Primäres Ausgabegerät ist der Bildschirm. Texte und Bilder dominieren. Bilder verschlingen jedoch riesige Mengen von Speicherplatz im Vergleich zu Text und sind nicht entfernt so stark standardisiert. Außerdem bieten sie auf mehr Raum weniger Information, eine Sache, die Sie bares Geld kostet, wenn Sie Webseiten ins Netz stellen oder aus dem Netz herunterladen. Klangfiles (*.wav) verbrauchen noch mehr Platz und Traffic, am meisten natürlich Filme (*.mpg, *.avi usw.).
Als das Internet noch primär ein schmalbandiges Medium war - also bevor DSL und UMTS sich etabliert hatten - führte dies zu einer natürlichen Auslese. Nicht nur wurden Multimedia-Dateien mit viel Aufwand komprimiert (dies führte zur Erfindung des MP3-Standards), es etablierten sich auch von Anfang an TEXT-Standards.
Man könnte meinen, dass die Herrschaft des Textes - und damit die Bedeutung der Dichter - abgenommen hätte, seit Filme und Musik im Internet eine Selbstverständlichkeit sind. Doch fast gleichzeitig mit Breitband-Verbindungen trat ein neues Phänomen auf. Eine Suchmaschine namens GOOGLE entstand, errang die Herrschaft über das Internet und benutzte ein Programm zum Katalogisieren von Internet-Seiten (den Page-Rank-Algorithmus), der ausschließlich TEXTE auswertet. In dem Moment also, in dem sich das Netz anschickte, den Text TECHNISCH nicht mehr zu brauchen, brauchte es ihn mehr denn je, um DURCHSUCHBAR zu werden.
 
Damit bleibt es eine Angelegenheit typographischer Zeichenketten. Ergebnis: es verfügt über zahlreiche Nur-Text-Medien, insbesondere Newsgroups, Internet Relay Chat und E-Mail; und auch die gesamte Steuerung - Programmcode - ist Text pur. Dieses Netz besitzt keine Sprache. Es hat eine Schreibe und eine Lese. Bilder, Klänge und Animationen haben also dienende Funktion, und mein stärkstes Argument dafür ist, daß Sie einer Suchmaschine kein Bild eingeben können, sondern nur einen Textstring.
Hypertext hat das noch verstärkt: er ist ein doppelter Bedeutungsträger, steht zugleich für Inhalt und Funktion - Aussage, Wegweiser und Vehikel in einem. Die neuen Gestaltungsmittel führen wieder dazu, daß auch neue Inhalte sich ausdrücken lassen; sollte man meinen. (Eine Gegenansicht vertritt, daß die Bereicherung sich auf die Literatur ungefähr so großartig auswirken wird wie die Erfindung der Illustrierten in Hochglanzfarbdruck oder des Fernsehens.)
Klären wir zunächst mal die Auswirkungen auf die Schriftkultur allgemein.

  • Der Witz an der Schrift war jahrtausendelang, daß sie die Flüchtigkeit des Wortes überwand. Diese Flüchtigkeit ist wiederhergestellt. Im Computer ist nichts fixiert, darum auch im Netz nicht, und unsere Informationen sind jetzt keine Dinge - Schriftstücke - mehr, sondern Magnetfelder und Ordnungen von Bits. Wenn Sie krimineller weise eine Festplatte löschen, so sind allerhand Straftatbestände für Sie einschlägig; aber nicht die Sachbeschädigung. Wer schreibt, bleibt - das war mal so. Jetzt fließt alles wieder. Elektronische Texte sind eben keine SchriftSTÜCKE, und statt publikumswirksamer Bücherverbrennungen müssen totalitäre Zensoren nur noch den Löschbefehl geben.
  • Die freie Kopierbarkeit bringt die Gefahr der Raubkopie mit sich. Mit Suchen/Ersetzen ein bisschen getrickst, und schon ist es MEIN Werk. Dagegen übrigens gibt es kaum einen besseren Schutz als Literaturformen: durch individuelle Stilmittel gestalten Sie den Inhalt selbst zu Ihrem Fingerabdruck, so daß Sie den electronic fingerprint gar nicht mehr brauchen. Womit bewiesen wäre, daß Poetik durch die Jahrtausende immer auch ein nützliches Werkzeug bleibt.
  • Der wichtigste *inhaltliche* Unterschied zu den herkömmlichen Printmedien ist das Ende der Linearität und Flächigkeit. Das liegt in der Natur der Sache: ein Buch ist immer strikt linear, selbst wenn es punktuell oder vernetzt gelesen wird, wie zum Beispiel ein Lexikon. Zwei Buchseiten nebeneinander sind ein flächiges Netzwerk, aber in sich immer noch linear. Doch Text folgt seinem Medium: im Netz ist auch Text ein Netz.

Den letzten Gedanken vertiefen wir mal.

 

 

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